In Anlehnung an Platons Kugelmenschen, die, von Zeus durch ein Schwert in zwei Teile gespalten, fortan nach Wiedervereinigung strebten, entwickelte Sigmund Freud das Konzept der Libido als einen uns bestimmenden und nach dem Liebesobjekt drängenden Trieb. Diese Suche nach der anderen, manchmal besseren Hälfte, stellt ein Urmotiv des Menschen dar, welches seine kulturelle Ausprägung des Findens und sich Bindens in der Ehe und in dem Ideal beständiger Beziehungen hat. Freuds These, dass jede Objektfindung eigentlich nur eine Wiederfindung sei – abgeleitet vom kindlichen Saugen an der Mutterbrust, unterstreicht die tiefe innerpsychische Verankerung dieses Zärtlichkeitsbedürfnisses, wie Alfred Adler es nannte. Melanie Klein, beschrieb später jene phantasiegetriebenen Bedingungen, die aus dem Saugen eine komplexe psychische Liebesfähigkeit entstehen lassen. Dabei spielt die Anerkennung der eigenen Destruktivität und der Wunsch nach Wiedergutmachung als Bestandteil der Liebesfähigkeit eine wesentliche Rolle. Schließlich formulierte Otto Kernberg die Komponenten der reifen Liebesfähigkeit, die es ermöglichen Liebesfähigkeit begrifflich und auch klinisch nützlich zu fassen.
Eines der wichtigsten Ziele der analytischen Behandlung ist es, innerpsychische Bedingungen herzustellen, die den Ausdruck einer reifen Liebesfähigkeit in Beziehungen möglich machen. Dabei bedeutet Lieben können nicht bloß Genuss oder Befriedigung zu finden oder zu geben, sondern die Liebesfähigkeit als Potential gerade dort zu erhalten, wo die Befriedigung ausbleibt. Dabei geht es auch nicht um asketische Entsagungsübungen oder um die Erhebung pandemischer Distanzierungsregeln zu einer Tugend. Die Liebesfähigkeit offenbart sich dort, wo Ablehnung und Verlust des geliebten Objektes Schmerz und Trauer mit sich bringt, aber nicht in der Lage ist, die Liebe von eigener Destruktivität überfluten zu lassen. Das Wiederfinden des Liebesobjekts, wenngleich oftmals durch obskure Erschwernisse verunmöglicht, einmal als Streit, einmal als Pandemiewelle, bleibt eben als Urerfahrung in uns eine stille aber wirksame Quelle der Hoffnung.
Nestor KAPUSTA Dr. med. FA f. Psychiatrie, habilitiert für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Individualpsychoanalytischer Analytiker, Lehranalytiker und Supervisor (ÖVIP). Assoziierter Professor an der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien klinisch, lehrend und forschend tätig. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalysen, Übertragungsfokussierte Psychotherapie und Psychoanalytische Paartherapie, Krisenintervention, sowie quantitative und qualitative Forschung und Lehre auf dem Spektrum zwischen Aggressionstrieb und Liebesfähigkeit, eigene Praxis Wien
Publikationen
Kapusta N. (2020). Über Liebe und Liebesfähigkeit aus psychoanalytisch-individualpsychologischer Perspektive. Zeitschrift für Individualpsychologie, Vol. 45, No. 1. DOI:10.13109/zind.2020.45.1.29.
Kapusta ND, Jankowski KS, Wolf V, Chéron-Le Guludec M, Lopatka M, Hammerer C, Schnieder A, Kealy D, Ogrodniczuk JS, Blüml V. (2018). Measuring the Capacity to Love: Development of the CTL-Inventory. Front Psychol; 9:1115. DOI:10.3389/fpsyg.2018.01115.
Kapusta ND. (2010). On: the concept of death drive and aggression. Int J Psychoanal; 91(3):641-2. DOI:10.1111/j.1745-8315.2010.00285.x.