Narzissmus und Machtmissbrauch in der Psychotherapie

Hans-Jügen Wirth      

Wie in allen helfenden Beziehungen spielt auch in der Therapeut-Patient-Beziehung die ungleiche Verteilung von Macht eine wichtige Rolle. Für einen gelungenen therapeutischen Prozess ist der verantwortliche Umgang mit Macht eine zentrale Bedingung. Missbraucht der Therapeut seine Macht, kommt es zwangsläufig zum Scheitern des therapeutischen Prozesses, weil sich der Patient abgelehnt, unverstanden und erniedrigt fühlt und/oder weil er einer Retraumatisierung ausgesetzt ist, auch wenn er diese selbst noch nicht bewusst wahrnehmen kann.
Narzisstisch gestörte Menschen streben nach Macht, weil sie damit ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Umgekehrt nährt die Möglichkeit, Macht auszuüben, Größen- und Allmachtsphantasien. Macht wirkt wie eine Droge: Die Selbstzweifel verfliegen, das Selbstbewusstsein steigt. Machtphantasien dienen häufig der Überwindung unerträglicher Ohnmachtsgefühle: So empfinden narzisstisch gestörte Patienten häufig ein Gefühl der Macht, wenn sie mit ihrem selbstdestruktiven Agieren den Therapeuten ohnmächtig machen.
Gehen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung ein, kommt es zu destruktiven und selbstdestruktiven Entwicklungen. Liebespartner, aber auch andere Interaktionspartner, beispielsweise Therapeut und Patient, verzahnen sich häufig in einem Macht-Ohnmachts-Kampf, der psychodynamisch als unbewusste narzisstische Kollusion (J. Willi) beschrieben werden kann. Die Macht wirkt wie eine institutionalisierte Abwehr, die den pathologischen Narzissmus verstärkt.
In diesem Beitrag werden die Bedingungen für Machtmissbrauch in der Therapie untersucht. Dies geschieht mit Hilfe von Horst-Eberhard Richters psychoanalytischer Rollentheorie und Jürg Willis Kollusions-Konzept. Neben dem sexuellen Missbrauch durch Therapeuten, der in letzter Zeit offener thematisiert werden kann als früher, spielt der narzisstische Missbrauch eine wichtige Rolle. Bei Therapeuten, die sich als Gurus in Szene setzen, liegt der Verdacht eines narzisstischen Missbrauchs ihrer Macht nahe. Abschließend werden die Bedingungen (beispielsweise in der Ausbildungssituation) diskutiert, die Machtmissbrauch durch Therapeuten begünstigen bzw. präventiv vermeiden helfen.