Die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 2018 oder: die erstaunliche Entwicklung eines ungeliebten Kindes

Annegret Boll-Klatt      

Etwa zu gleichen Teilen machen die Verhaltenstherapie und die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) über 90 % der durch die gesetzlichen Krankenkassen finanzierten ambulanten psychotherapeutischen Behandlungen aus. Auch 50 Jahre nach ihrer Anerkennung als kassenfinanziertes Therapieverfahren wird die TP häufig noch als Minus-Variante oder als »kleine Schwester« der Analytischen Psychotherapie bezeichnet. Um Anschluss zu finden an den internationalen Sprachgebrauch, wird die TP heute zunehmend häufiger auch als Psychodynamische Psychotherapie bezeichnet und damit der Oberkategorie der psychodynamischen Verfahren zugeordnet. Die sog. »Common-Gound-Debatte« verweist darauf, dass psychodynamischen Behandlungsverfahren aber keineswegs homogen, sondern durch vielfältige Diversifizierungen und Spezifizierungen in der zugrundeliegenden Krankheits- und Behandlungslehre gekennzeichnet sind. Diese Entwicklung beruht auch auf der Aufgabe des psychoanalytischen Junktims und einer daraus resultierenden Öffnung mit Berücksichtigung und Nutzung von Erkenntnissen aus Forschungskontexten außerhalb des psychoanalytischen Behandlungssettings wie z. B. der Neurobiologie und der beobachtenden psychoanalytisch inspirierten Säuglings- und Kleinkindforschung. Die Diskussion fokussiert die Frage, inwieweit die Arbeit mit dem Unbewussten in seinen beiden Dimensionen das Alleinstellungsmerkmal der psychodynamischen Verfahren darstellt. Dass sich die TP zu einem wirkungsvollen Therapieverfahren mit einer identitätsstiftenden Kontur entwickelt hat, wird anhand von vier Themen nachgezeichnet: (1) Störungsorientierung, (2) Trend zur Manualisierung, (3) Ergebnisse der Psychotherapieforschung und (4) synergetische Methodenintegration. Den Abschluss bildet der Verweis auf die vom Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit angestrebte Einführung eines eigenständigen universitären Studienganges »Psychotherapie« und deren Bedeutung für weitere Entwicklungen in unserem Fach.